- Harappa im Verhältnis zu den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens
- Harappa im Verhältnis zu den Hochkulturen Ägyptens und MesopotamiensIm Jahre 1922 wurden in Britisch-Indien bei Forschungen nach weiteren Spuren des Alexanderfeldzuges Überreste einer bis dahin völlig unbekannten Kultur entdeckt. Grabungen in Harappa im Norden des Industals und in Mohenjo-Daro in seinem Süden erbrachten überwältigende Zeugnisse großer Stadtanlagen, die offensichtlich einer frühen Hochkultur angehört haben mussten. Schon bald ging dies als Sensation durch die Weltpresse. Die Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens waren der Nachwelt immer bekannt geblieben. Schon der Grieche Herodot hatte Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. deren Länder bereist und sie beschrieben. Über Ägypten, Assyrien und Babylonien berichtet das Alte Testament: Der Babylonische Turm galt den Israeliten als Ausdruck menschlicher Hoffart gegenüber Gott; ein Tempelturm (Zikkurat), den der Mensch bis in den Himmel bauen wollte. Die ägyptischen Pyramiden zählten schon in der Antike zu den Sieben Weltwundern und haben die Menschen seither immer wieder fasziniert. Die Harappakultur am Indus hingegen (daher auch Induskultur genannt) entschwand bis zur Wiederentdeckung vor mehr als 70 Jahren dem Bewusstsein ihrer Nachwelt. Selbst früheste, uns erschlossene indische Texte des Sanskrit aus dem späten 1. Jahrtausend v. Chr. geben keine direkten Hinweise auf diese ältere Kultur, deren Untergang ab 2000 v. Chr. begonnen haben muss.Wie von Mesopotamien und Ägypten sind von der Harappakultur Schriftzeichen überliefert, und zwar mit dem Beginn der großen Städte um 2500 v. Chr. Es waren große Momente der Menschheitsgeschichte, als der Franzose Jean François Champollion zu Beginn des 19. Jahrhunderts der gelehrten Welt die ersten Übersetzungen ägyptischer Hieroglyphen vorstellte und der Göttinger Georg Friedrich Grotefend zum ersten Mal Keilschrifttexte aus dem Zweistromland lesen konnte. Die Indusschrift dagegen gilt, trotz ernsthafter Versuche, als noch nicht entziffert, da ein unabhängiger zweiter Beweis durch Übersetzungstexte aus damaliger Zeit in uns bekannte alte Sprachen bisher fehlt.Heute sind die Disziplinen der Ägyptologie und Vorderasiatischen Altertumskunde (Altorientalistik) an vielen Universitäten international etabliert, während es noch keine eigenständigen universitären Einrichtungen zur Erforschung der Harappakultur gibt. Verglichen mit den frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens ist die des Industals flächenmäßig die größte: Auf 1 Million km2 sind bisher mehr als 1000 Fundorte identifiziert. Die Blütezeit der Harappakultur wird zwischen 2500 und 2000 v. Chr. angenommen. Während direkte Kontakte zwischen dieser Hochkultur und Ägypten nicht bekannt sind, fanden sich schon um 2500 v. Chr. in den Königsgräbern von Ur im Süden Mesopotamiens Schmuckperlen aus Karneol, die Import aus dem Industal gewesen sein müssen. Zusätzlich weisen spätere mesopotamische Texte auf Handelskontakte mit Melucha und Tilmun hin. Melucha wird heute mit dem Industal identifiziert, Tilmun mit der Gegend um Bahrain im Persischen Golf. Im Jahre 1990 wurde in Ras al-Junaiz, an der südöstlichen Spitze der Arabischen Halbinsel, eine Tonscherbe mit Indusschriftzeichen gefunden. Heute sind aus arabischen Siedlungen viele harappazeitliche Funde bekannt — Ausdruck des intensiven Indienhandels auch mit dieser Region.Die Harappakultur wird entdecktDie Wiederentdeckung der Harappakultur ist einem Zufall zu verdanken, der fast gleichzeitig an zwei Orten eintrat: in Harappa und Mohenjo-Daro. Harappa ist der Name eines Dorfes an den Ufern des Ravi, eines Nebenflusses des Indus, heute in Pakistan etwa 150 km südlich der Stadt Lahore gelegen. Das Dorf gab einem archäologischen Fundplatz seinen Namen, der bereits im 19. Jahrhundert bekannt war. In dieser Zeit richtete sich das Interesse des britisch-indischen Antikendienstes vorwiegend auf die Zeugnisse erster Begegnung westlicher Kulturen mit denen Indiens, auf die Zeit des großen Alexanderfeldzuges 327—323 v. Chr. Daher konnte der damalige Direktor des Antikendienstes, Sir Alexander Cunningham, einige Funde nicht richtig deuten, die bereits auf die Harappakultur hätten hinweisen können. Dazu zählte ein Siegel mit harappazeitlichen Schriftzeichen. Auch Mohenjo-Daro war bereits vor den großen Entdeckungen (nach 1922) mehrmals von Archäologen besucht worden. Hier bezeichnet der Name einen Hügel nahe dem Indus in der heutigen pakistanischen Provinz Sind, der sich mehr als 15 m über die vom Indus angeschwemmte, ansonsten völlig flache Ebene erhebt. Was die Archäologen zuerst interessierte, war eine Art Turm, später identifiziert als der beraubte Stupa eines buddhistischen Klosters aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., ein Grab- oder Erinnerungsmal für den Buddha. Erst weitere Grabungen brachten Siegel mit unbekannten Schriftzeichen hervor, wie man sie aus Harappa kannte. Bei einem Vergleich dieser archäologischen Befunde der beiden 600 km voneinander entfernten Orte wurde dem damaligen Direktor des Antikendienstes, Sir John Marshall, sofort klar, dass eine bisher unbekannte Hochkultur entdeckt worden war. Nach 1924 konzentrierte man alle verfügbaren Kräfte auf die Grabungen in Harappa und Mohenjo-Daro. Leider stellte sich schon bald heraus, dass die Fundlage in Harappa weitestgehend gestört war, da 1857 britische Eisenbahnbauer Millionen von Ziegeln von hier hatten wegholen lassen, um die Eisenbahntrasse Lahore —Multan zu befestigen.Mohenjo-Daro wird ausgegrabenAnders sah es in Mohenjo-Daro aus. Hier war der mehr als 100 Hektar große Fundort weitestgehend ungestört. Teilweise von den Resten der buddhistischen Klosteranlage bedeckt, lagen unmittelbar unter der staubigen Oberfläche die Ruinen der bronzezeitlichen Stadt. Bis 1931 wurden mehr als 100000 m2 in den verschiedenen Bereichen ausgegraben; ganze Stadtteile mit Häusern, Straßen, Kanälen und Brunnen erstanden wieder. Schon bald wurde das städtische Gefüge der Siedlung sichtbar. Die mehreren Hundert ausgegrabenen Häuser waren im Wesentlichen nordsüdlich und ostwestlich ausgerichtet. Im Westen befand sich ein höher gelegener Bereich (200 m×400 m), den der britische Archäologe Sir Mortimer Wheeler später als eine befestigte »Zitadelle« bezeichnen sollte. Nach einem Freiraum von etwa 200 m Breite schloss östlich die Unterstadt an. Ihr heute sichtbarer Teil misst 1200 m in der Länge und an seiner breitesten Stelle 800 m. Sie ist der Länge nach von einer etwa 10 m breiten Hauptstraße durchzogen; vermutlich gab es dazu weitere Parallelstraßen. Insgesamt wurden bis 1931 von mehreren Hundert Arbeitern sechs Großbereiche freigelegt, in den Grabungsberichten weitestgehend benannt mit den abgekürzten Namen der Grabungsleiter. Nach den großen Kampagnen der 1920er-Jahre fanden bis heute nur noch kleinere Grabungen statt, u. a. 1950 die bedeutende Grabung von Sir Mortimer Wheeler, 1964 die vorläufig letzte.Heute wissen wir, dass die Stadt auf gewaltigen Unterbauten aus Lehmziegeln und Erdfüllungen errichtet wurde, die im Laufe der letzten 4500 Jahre nach und nach unter den Ablagerungen des Indus begraben wurden. Was sich heute aus der Ebene erhebt, ist nur »die Spitze eines Eisberges«. Offensichtlich war diese Stadt geplant: Nicht nur die künstliche Plattform, auf der sie errichtet wurde, sondern auch die regelmäßigen Straßenanlagen, zahlreichen Brunnenbauten und Abwasserkanäle weisen darauf hin. Im Zitadellenbereich legte man 1925 die älteste Großbadeanlage der Menschheit frei, ein 7 m×12 m messendes Becken, vollständig aus speziell angefertigtem, scharfkantigem Ziegel hergestellt, das von Norden und Süden über eine Treppe begehbar war. Das Bassin lag in einem großen Hof, von einem Laubengang und Räumen umgeben, und wurde vermutlich von einem großen Brunnen aus einem östlich liegenden Seitenraum gespeist. Verglichen mit der Unterstadt weist die »Zitadelle« Gebäude auf wie etwa das »Große Bad«, die nicht dem unmittelbaren Wohnen dienten. Dazu zählt auch eine große Backsteinarchitektur südwestlich des »Großen Bades«, die als »Kornspeicher« gedeutet wurde.Die Indusforschung dehnt sich ausBald nach der Entdeckung Mohenjo-Daros und Harappas dehnte sich die Indusforschung auf den gesamten Großraum Nordwestindiens aus. Der berühmte britische Archäologe Sir Aurel Stein erkundete das westlich des Indus gelegene Bergland, wo er in den Hochtälern Belutschistans und Waziristans viele Fundorte entdeckte, die noch älter waren als die der Induskultur. Die Forschung in diesen Gebieten wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Briten und Amerikanern fortgesetzt, sodass wir heute über eine große Anzahl von Fundorten wohl unterrichtet sind.Auf späteren Reisen durch die östlich des Indus gelegenen Wüstengebiete ortete Stein auch dort vorgeschichtliche Siedlungen. Entlang des heute trockenen Flusses Ghaggar (Hakra), eines Parallelflusses des Indus, wurden in den 1950er-Jahren viele Hundert weitere Siedlungen der Harappa- und Hakrakultur entdeckt. Im zentralen Industal forschte in den 1920er- und 1930er-Jahren der Inder Nani Gopal Majumdar, einer der erfolgreichsten Archäologen seiner Zeit. Unter anderem entdeckte er die Fundorte Amri, etwa 80 km südlich, und Kot-Diji, etwa 30 km östlich von Mohenjo-Daro. Beide wurden in den späten 1950er-Jahren ausgegraben und gelten heute als Leitfundorte, d. h. als charakteristisch für die unmittelbar der Harappakultur vorhergehenden Kulturen, aus denen sich diese vermutlich entwickelte. Mit der Teilung Britisch-Indiens 1947 in die beiden Staaten Pakistan und Indische Union ging die moderne Staatsgrenze auch mitten durch das ehemalige Gebiet der Harappakultur. Während die »klassischen« Städte wie Harappa und Mohenjo-Daro in Pakistan liegen, befinden sich größere Siedlungsgebiete Rajasthans und Gujarats in der Indischen Union. Hier wurde durch den indischen Antikendienst die Indusforschung intensiv vorangetrieben. Ihm verdanken wir die Entdeckung von Hunderten von Fundorten. Nur wenige wie Kalibangan in Rajasthan und Surkotada sowie Lothal auf der Halbinsel Saurashtra wurden ausgegraben, sodass noch ein ungemein großes Potenzial auf seine archäologische Erschließung wartet. In Pakistan wurde die Indusforschung von französischen, amerikanischen, britischen und deutschen Archäologen gemeinsam mit dem pakistanischen Antikendienst weitergeführt. Eine der bedeutenden französischen Entdeckungen neuerer Zeit ist die Siedlung Mehrgarh, die bis in das 8. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Mit dieser und den vielen anderen Grabungen ist die Entstehung der Harappakultur in großen Zügen erforscht.Die Harappakultur in ihrer ZeitDie Geschichte menschlicher Besiedlung reicht im Nordwesten des indischen Subkontinents bis in die Altsteinzeit zurück. Forschungen britischer Archäologen erbrachten im Potwar Plateau, Nordpakistan, Nachweise menschlicher Aktivitäten, die bis zu 500000 Jahre zurückverweisen. In den Rohribergen, westlich Mohenjo-Daros, entdeckte man bisher noch nicht genauer datierte paläolithische Flintwerkstätten. Der allgemein als »neolithische Revolution« bezeichnete und vom Sesshaftwerden begleitete Umbruch der Nahrungsaneignung vom Jäger und Sammler zum Bauern und Viehzüchter ist in Mehrgarh um 8000 v. Chr. zu beobachten. In dieser Siedlung, in der Kacchi-Ebene am Fluss Bolan gelegen, fanden französische Archäologen eine Siedlungskontinuität bis in das 2. Jahrtausend v. Chr. Die in der Nähe gelegene Siedlung Novsharo erbrachte die Anbindung an die Harappakultur.Der heutige Stand des Wissens über diesen Raum vermittelt das Bild einer komplexen kulturellen Entwicklung seit dem 4. Jahrtausend v. Chr., geprägt von verschiedenen Keramiktraditionen: vor allem der Kot-Dijis, Amris und Sothis, wobei eine Besiedlung des Industals von den Rändern zum Zentrum mit dem Höhepunkt Mohenjo-Daros stattgefunden hat. Seit frühester Zeit war der Siedlungsraum der westlichen Bergwelt mit dem Anschluss über Fernhandelswege an die Kulturen Irans, Afghanistans und Mittelasiens auch für die Entwicklung im Industal von großer Bedeutung. Im 4. Jahrtausend v. Chr. waren die ökologischen Nischen der Industalrandzonen wie die des Manchharsees, der Kacchi-Ebene, der Gomal-Ebene im Westen und die des Ghaggar im Osten bereits besetzt. Der im zentralen Schwemmland des unteren Indus gelegene Bergrücken der Rohriberge diente schon seit dem Paläolithikum dem Abbau und der Weiterverarbeitung von Flint. Kot-Diji ist eine der prominenten Siedlungen des ausgehenden 4. Jahrtausends v. Chr., die später in das Siedlungssystem der Harappakultur integriert wurden. Die teilweise im Manchharsee liegenden Siedlungen lassen bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. die Nutzung von Wasserfahrzeugen vermuten. Neueste Grabungen in Harappa durch amerikanische Archäologen zeigen, dass auch das nördliche Fünfstromland (Pandschab) schon seit dieser Zeit besiedelt war und sich der Übergang von den Vorgängerkulturen zur Harappakultur weitgehend fließend gestaltete.Die Wissenschaft kann die Frage nicht eindeutig beantworten, wo sich die Harappakultur zu der in Mohenjo-Daro vorgefundenen Form entwickelt hat. Während eine Gruppe von Forschern das Gebiet um Mohenjo-Daro mit der Kacchi-Ebene und dem Manchharsee als Zentrum dieses Prozesses annimmt, vermuten andere den Mittelpunkt um Harappa im Norden oder entlang des Flusses Ghaggar im Osten. Mohenjo-Daro als Stadt scheint nicht der Ort dieses Prozesses gewesen zu sein: Zu perfekt und homogen ist hier die Technologie von den untersten Schichten an vertreten. So war wohl die Stadt mit ihren gewaltigen Unterbauten, der vollkommenen Planung, der Technologie des Brunnenbaus und des gebrannten Ziegels sowie der Schrift der stolze Ausdruck der bereits voll entwickelten Harappakultur. Was in den mehreren Hundert Jahren der Existenz dieser Kultur geschehen ist, kann heute noch nicht aufgezeigt werden, nicht zuletzt, weil ihre materiellen Hinterlassenschaften überraschend einheitlich sind. Es ist kaum möglich, anhand von Keramik, Schrift oder Architektur Phasen zu unterscheiden. Absoluter Datierung zufolge trat ab 2000 v. Chr. in Mohenjo-Daro ein Zerfall städtischer Funktionen ein: Die großen Bauwerke wurden verlassen und mit provisorischen Behausungen aus wieder verwendetem Ziegel überbaut, auf den großen Straßen finden sich Keramikbrennstätten. Auch die Schrift verschwand, die Keramiktradition allerdings bestand noch einige Zeit weiter. Alle Anzeichen, auch in Harappa, zeugen von einem langsamen Niedergang mit späterer regionaler Angleichung und nicht, wie früher angenommen, von einem plötzlichen katastrophalen Ende. Gründe hierfür können ökologischer, klimatischer bis hin zu politisch-administrativ-wirtschaftlicher Natur sein. Der Einfall arischer Stämme um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. ist jedenfalls mit dem Untergang der Kultur nicht in Verbindung zu bringen. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass die Harappakultur literarisch nicht ausdrücklich der Nachwelt überliefert wurde.Stadt und Gesellschaft am IndusDie Städte der Harappakultur waren offensichtlich nach bestimmten Regeln geplant. Das wurde schon bei Harappa und Mohenjo-Daro derartig deutlich, dass einige Archäologen sie als »Zwillingsstädte« bezeichneten: Beide Städte bestanden aus einem westlichen, höheren Bereich (der »Zitadelle«), der von einem östlichen Wohnstadtbereich getrennt war. Dieser Typus eines Stadtgrundrisses fand sich bei späteren Ausgrabungen auch in Kalibangan, Lothal und Surkotada. Während Mohenjo-Daro, auf gewaltigen, künstlichen Plattformen errichtet, vorwiegend durch seine überhöhte Lage inmitten des angeschwemmten Indusflutbereichs geschützt war, sind für Harappa und die anderen Siedlungen Befestigungsmauern nachgewiesen.Wheelers Deutung wird korrigiertWie konnte man in Mohenjo-Daro ein Paar Schuhe erwerben? Wie besorgte man sich seine Nahrung für das Frühstück? Diese und ähnliche Fragen muss man sich stellen, wenn man durch die engen Gassen dieser Stadt geht und sich in das Leben der damaligen Zeit zurückversetzt. Da aus Mesopotamien Formen zentraler Tempelwirtschaft bekannt waren, nahm Sir Mortimer Wheeler eine ähnliche Ökonomie, verbunden mit einem Priesterkönigtum, auch für Indien an: Priesterkönige regierten die Städte, deren Zentren nahe einem Heiligtum gelegene Lagerspeicher waren, von denen aus die erwirtschafteten Güter wieder verteilt wurden. Dabei ging Wheeler davon aus, dass die »Idee« der Stadt von Mesopotamien übernommen worden war. Das Phänomen »Stadt« ist jedoch mehr als eine »Idee« und hat komplexe gesellschaftliche Voraussetzungen. Heute wissen wir, dass die Städte im Industal das Ergebnis langer lokaler Prozesse waren. Auch wissen wir, dass sich die ökonomischen Systeme hier von denen Mesopotamiens unterschieden. Keines der von Wheeler in den 1950er-Jahren als »Kornspeicher« identifizierten Bauwerke in Mohenjo-Daro, dort von ihm selbst auf der »Zitadelle« ausgegraben, und in Harappa, bereits in den 20er-Jahren außerhalb der »Zitadelle« entdeckt, lässt nach heutiger Untersuchung diese Deutung weiterhin zu. Vielmehr ist anzunehmen, dass ein weit verzweigtes Wirtschaftssystem das Rückgrat dieser Gesellschaft bildete. Dabei ist nicht auszuschließen, dass Mohenjo-Daro das eigentliche Zentrum darstellt. Die Siedlungsstruktur weist auf eine vorwiegend verwaltungs- und handelsorientierte Stadt hin mit starker, vorwiegend über Wasserstraßen verbundener Peripherie. Hierzu war kontrollierte, personenungebundene Kommunikation notwendig, die in Form von Schrift auch hier eingeführt wurde. Arbeitsteilung bestand sogar siedlungsweise: Untersuchungen entlang des heute trockenen Flussbettes des Ghaggar östlich des Indus erbrachten Hunderte kleiner Siedlungen, viele von ihnen — folgt man den aufgelesenen Funden — spezialisiert in bestimmten Produktionstechniken. Von den Siedlungen auf der heutigen Halbinsel Saurasthra wissen wir, dass sie vorwiegend Baumwolle produzierten; andere verarbeiteten Metall oder bearbeiteten Muscheln. Kupfer wurde sogar von der Arabischen Halbinsel importiert.Über das alltägliche Leben sind wir nur durch archäologische Funde informiert. Produktionsplatz innerhalb des Hauses war der oft halb überdachte Hof, wo sich das alltägliche Leben vorwiegend abspielte. Er war von der Straße durch eine knickachsige Erschließung optisch abgesichert; vermutlich waren die Eingänge durch hölzerne Türen verschließbar. Als Nahrung war Reis zu dieser Zeit hier noch unbekannt, Weizen war als Winteranbaufrucht wesentlicher Bestandteil der Ernährung. Nahe den Kochstellen fand man vielfältiges Küchengerät, Reibesteine, Tongeschirr. Das Wasser wurde aus rund in Ziegel gemauerten Tiefbrunnen gezogen, die sich entweder im eigenen Haus oder, von außen zugängig, im Nachbarhaus befanden. Hauptwerkstoff für Geräte war der Flint, der in den Rohribergen abgebaut wurde. Allerdings wurden bronzene Gerätschaften vermehrt genutzt. Die Produktionspalette umfasste Keramik, Metallgefäße, Werkzeuge, Kleidung, Boote, Karren.Über die Religionsformen wissen wir ebenfalls wenig. Anders als in den großen Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens sind bis heute Sakralbauten nicht eindeutig bestimmbar; wir wissen nicht, welche Gottheiten verehrt wurden und welche Rolle sie im Leben der Menschen spielten. Einige wenige szenenhafte Darstellungen auf Siegeln geben vage Vorstellungen über mögliche Ritualien. In der figürlichen Plastik ist der »Priesterkönig« wohl am bekanntesten. Nur wenige Plastiken aus Stein sind in Mohenjo-Daro gefunden worden. Dazu zählen Köpfe sowie mehrere Darstellungen von ruhenden Widdern, teils auf herausgearbeitetem Podest. Da diese Plastiken bisher nur in Mohenjo-Daro, und zwar in späten Schichten gefunden wurden, liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um nicht originäres Kulturgut der Harappakultur gehandelt haben mag. Podest (Erhebung, Ikonisierung) und Ruhestellung können auf eine sakrale Bedeutung hinweisen.Fast als Massenware hergestellt wurden Terrakotten, meist schlanke weibliche Figuren aus Ton. Sie hatten offensichtlich Vorläufer in den Vorgängerkulturen Belutschistans, wie aus der französischen Grabung in Mehrgarh sowie aus Fundorten entlang des Flusses Zhob hervorgeht. Aber auch eine reiche Palette von tiergestaltigen Figuren sowie mischgestaltige Darstellungen sind bekannt. Den weiblichen Tonfiguren vergleichbare Figurinen sind auch in anderen Kulturen bekannt, wo sie als Fruchtbarkeitssymbole mit kultischem Charakter gedeutet werden.Man schmückte sich gerne im Industal. Viel Edelstein wie Karneol, Lapislazuli, Kristall, Achat, Jaspis wurde zu Halsketten verarbeitet. Vor allem der Karneol wurde in aufwendigen Verfahren durch Schleifen und Polieren zu bis 15 cm langen Perlen verarbeitet, die, perforiert aneinander gereiht, reiche Halsketten ergaben. Solcher Karneolschmuck wurde in dem Grab der Königin Puabi (um 2500 v. Chr.) in Ur in Mesopotamien als Exportgut gefunden. Auch Gold wurde zu Hals- und Kopfschmuck verarbeitet. Besonders zu erwähnen sind aus einer Art Steingut nahtlos gefertigte Armreife. Bei vergleichender Betrachtung mit den frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens nimmt sich die Harappakultur jedoch eher bescheiden aus. Das war wohl auch einer der Gründe, warum man nach 1931 die intensive Forschung in Mohenjo-Daro einstellte. Es waren keine wirklich sensationellen Goldfunde und Schätze entdeckt worden. Man dachte eben immer noch als Goldgräber. Es ist jedoch gerade bezeichnend für diese Kultur, dass bisher keine großen Königsgräber, Tempel und Paläste gefunden wurden. Ihr Prestigebereich sowie die Formen der Verehrung müssen weniger monumental gewesen sein als die der anderen Kulturen. Sie zu finden ist weiterhin Aufgabe der Archäologie.Formen der Macht. Die ersten »Bürgerstädte« der Welt?Betrachtet man die gewaltigen Bauwerke und erbrachten Leistungen der frühen Hochkulturen, so stellt sich die Frage nach der inneren Motivation und den ausführenden Kräften. Die ägyptischen Pyramiden wären nie errichtet worden, hätte der Glaube nicht bestanden, dass der weltliche König göttlich sei und nach dem Tode weiterlebe. Die Pyramide war das ewige Haus des Pharao, aus »ewigem« Material erstellt, während das normale Haus aus Lehmziegel errichtet war. Die Vergöttlichung weltlicher Macht scheint in der Geschichte der Menschheit einhergegangen zu sein mit der Entstehung monumentaler Werke in Kunst und Architektur. In den Städten des Industals konnten bis heute weder Tempel noch Paläste eindeutig identifiziert werden. Stattdessen gibt es Hunderte von komfortablen Wohnhäusern, große und kleine gemischt, aus gebranntem Ziegel heutigen Formats errichtet, mit Frischwasserbrunnen und perfekter Kanalisation. Mohenjo-Daro war auf gigantischen künstlichen Plattformen errichtet, eine Leistung, die von Tausenden Menschen in kurzer Zeit gemeinsam erbracht werden musste, um diese offenbar geplante Stadt in unmittelbarer Nähe des jährlich große Gebiete überschwemmenden Indus zu bauen. Hier scheint die gemeinsame Arbeitsleistung, vergleichbar mit der bei der Errichtung einer Pyramide, nicht für wenige Einzelne, sondern für eine große Anzahl Beteiligter eingebracht worden zu sein. Aber wie könnten wir dieses Phänomen erklären? Woher kamen die vielen Menschen, die notwendig waren, nicht nur um Mohenjo-Daro zu besiedeln, sondern auch noch die uns bisher bekannten weiteren mehr als 1000 Siedlungen über eine Fläche von 1 Million km2 zu bewohnen? Allein in Mohenjo-Daro haben schätzungsweise etwa 40000 Menschen gelebt. Weiter könnten wir fragen: Wer waren die Organisatoren, wer der geniale Ingenieur-Architekt und wo wurde die so moderne Technologie eines vorfabrizierten, völlig rationalisierten Bauelements wie der gebrannte Ziegel gleichen Formats und gleicher Größe wie unser heutiger Standardziegel entwickelt? Ziegel dieser Art waren weder in Mesopotamien noch in Ägypten bekannt. Mehr als 600 Brunnen finden sich in Mohenjo-Daro, zylindrisch in keilförmigem Ziegel gemauert und über 20 m bis tief in das Grundwasser abgeteuft, eine perfekte Ingenieursleistung, die in der Geschichte des Wasserbaus ihresgleichen sucht. Unvergleichlich für diese Zeit ist auch die Infrastruktur der Abwasserkanäle, die die ganze Stadt durchzogen, eine Infrastruktur, die es erst im 19. Jahrhundert n.Chr. wieder geben sollte.Viele dieser Erscheinungen müssen bisher unerklärt bleiben. Trotzdem können wir schon jetzt sagen, dass diese Kultur sich in der Region aus Vorläuferkulturen entwickelte, allerdings durch einen zusätzlichen kurzen, aber äußerst starken Impuls, durch den die bisherigen Dorfkulturen in eine Stadtkultur überführt wurden. Ein ganz wesentlicher Impuls kam sicherlich durch die systematische Verlagerung der Transportmittel vom Land auf das Wasser, vermutlich einer der Gründe, warum Mohenjo-Daro so nahe an den Indus gebaut worden war. Fast alle Siedlungen der Harappakultur waren an Wasserwegen errichtet, der Fernhandel nach Mesopotamien erfolgte per Schiff und nicht über Land. Zukünftige Forschungen müssen klären, ob man hier bereits von »Bürgerstädten«, 2000 Jahre vor der griechischen Demokratie, sprechen kann.Der heutige ForschungsstandEs ist der schwierigste Teil archäologischer Arbeit, das Leben einer vergangenen Kultur allein aus dem archäologischen Befund ohne zusätzliche Information aus schriftlichen Zeugnissen wieder erstehen zu lassen. Dabei sollten wir zwischen Rekonstruktion mittels durchaus erlaubter Phantasie und wissenschaftlicher Rekonstruktion unterscheiden. Aus der strengeren Sicht heutiger Forschung müsste so manches uns teuer gewordene Buch über vergangene Kulturen neu geschrieben werden. Dazu zählen sicherlich auch einige Bücher über die Harappakultur. Gerade bei der Durchsicht von Büchern aus verschiedenen Jahrzehnten unserer Zeit über eine vergangene Kultur wird bald klar, dass Geschichte auch abhängig ist von ihrem Darsteller und Betrachter. So genügt es nicht, Methoden zur Erhebung wissenschaftlicher Daten zu verbessern, sondern auch die Verfahren ihrer Deutung müssen verfeinert werden. Bei der Deutung der materiellen Hinterlassenschaften sind deshalb heute mehr Fragen offen denn je. Die von Mesopotamien übernommene sehr eingängige Vorstellung eines Priesterkönigtums, das von den Zwillingsstädten Harappa und Mohenjo-Daro aus das Indusreich beherrschte, vor 40 Jahren von Wheeler entworfen, stimmt heute nicht mehr mit dem umfassender gewordenen archäologischen Befund überein, ohne dass man deshalb schon genauer sagen könnte, wie die Träger der Harappakultur wirklich gelebt haben. Daher ist es notwendig, die Indusforschung intensiv vorwärts zu treiben, um die Geheimnisse dieser großen Hochkultur weiter zu lüften.Prof. Dr. Michael JansenWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Indien in vedischer ZeitHochkultur: Annäherung an einen umstrittenen BegriffAllchin, Bridgetund Allchin, Raymond: The rise of civilization in India and Pakistan. Cambridge u. a. 1982. Nachdruck Cambridge u. a. 1988.Ancient cities of the Indus, herausgegeben von Gregory L. Possehl. Delhi 1979.Ardeleanu-Jansen, Alexandra: Die Terrakotten in Mohenjo-Daro. Eine Untersuchung zur keramischen Kleinplastik in Mohenjo-Daro, Pakistan (ca. 2300-1900 v. Chr.). Aachen 1993.Dales, George F. / Kenoyer, Jonathan M.: Excavations at Mohenjo Daro, Pakistan. The pottery. Philadelphia, Pa. 1986.Fairservis, Walter A.: The roots of ancient India. The archaeology of early Indian civilisation. New York 1971.Fouilles de Pirak. 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Universal-Lexikon. 2012.